„Ich bin eben eine Perfektionistin! So war ich schon immer!“. Frau M., 46 Jahre alt, wird von ihrem Chef sehr geschätzt, denn auf ihre Leistungen kann er zählen. Alle Aufgaben erledigt sie stets zu seiner vollsten Zufriedenheit, auch nach Feierabend. Kein Wunder, dass er gerne auf ihre Arbeitskraft zurückgreift. Auch im Privatleben ist Frau M. überdurchschnittlich engagiert. Als gute Gastgeberin, tolle Köchin und kreative Gestalterin hochwertiger Dekorationen und Geschenke ist sie in ihrem Bekanntenkreis über alle Maßen beliebt und wird regelmäßig um Unterstützung gebeten.
Zeit für Pausen und Erholung hat Frau M. selten bis nie – und das macht sich mittlerweile bemerkbar.
Frau M. hat wegen verschiedener gesundheitlicher Probleme ihren Arzt aufgesucht. Sie leidet unter Schlafstörungen, ständiger Müdigkeit, Rückenschmerzen und Konzentrationsproblemen. Sie weiß, dass sie sich zu viel zumutet. Und dass dies eigentlich gar nicht nötig wäre. Aber es fällt ihr so unglaublich schwer, ihren Perfektionismus abzulegen. „Halbe Sachen“ mag sie einfach nicht. Doch warum ist das eigentlich so?
Nicht erstrebenswert: Perfektion in allen Lebenslagen
Wenn wir alle Anforderungen, mit denen wir in unserem Alltag konfrontiert werden, zu (mindestens) 100% erfüllen wollen, setzen wir uns selbst unter gehörigen Druck. Natürlich gibt es im Leben – meist im beruflichen Bereich, man denke etwa an das Gesundheitssystem – Situationen, in denen Fehler und Ungenauigkeiten schwere Folgen haben können. Doch es gibt noch viel mehr Aufgaben und Tätigkeiten, bei denen wir mit deutlich geringerem Aufwand ein zwar nicht perfektes, aber durchaus akzeptables Ergebnis erzielen können. Perfektion in allen Lebenslagen ist eine Illusion – und das Streben danach eine enorme Belastung!
Perfektionismus – was steckt dahinter?
Es lohnt sich also zu überlegen, was hinter übertrieben hohen Ansprüchen stecken könnte, die wir an uns selbst stellen. Häufig ist es Angst. Die Angst etwa, vom Vorgesetzten für einen Fehler kritisiert zu werden. Die Angst, von Freunden oder Familie weniger geschätzt zu werden, wenn wir nichts „Besonderes“ zu bieten haben. Die Angst, sich mit einer schlechten Leistung zu blamieren. Das Bemühen um Perfektion ist dann also im Grunde das Vermeiden einer Situation, vor der wir uns fürchten: Von anderen kritisiert oder abgelehnt zu werden.
Ganz schön schwierig: Mal nicht perfekt sein
Es ist nicht einfach, sich mit den eigenen, oft seit Jahrzehnten praktizierten Denk- und Verhaltensweisen auseinanderzusetzen. Und noch schwieriger kann es sein, diese zu ändern. Denn dies bedeutet, sich mit den bisher vermiedenen Situationen zu konfrontieren, sich „angreifbar“ zu machen, vielleicht von anderen wirklich negativer bewertet zu werden.
„Es fühlt sich für mich falsch an, wenn ich meinem Chef ein Dokument übergebe, mit dem ich selbst noch nicht absolut zufrieden bin!“, berichtet Frau M. Es falle ihr sehr schwer, ihre eigenen hohen Ansprüche nicht vollständig zu erfüllen. Und dies ist nur allzu verständlich. Schließlich hat sie das noch nie zuvor getan. Und sie weiß nicht, wie ihr Umfeld auf ihr neues Verhalten reagieren wird.
Durchhalten lohnt sich
Frau M. arbeitet dennoch weiter daran, Dinge auch mal entspannter anzugehen. „Gut ist meist gut genug!“ hat sie für sich als hilfreichen Satz ausgewählt, der sie bei dieser Veränderung begleitet. Und siehe da: Die befürchtete Ablehnung ist bisher größtenteils ausgeblieben. Ihrem Chef ist die vermeintlich schlechtere Qualität ihrer Arbeit wohl gar nicht so aufgefallen. Und ihre Gäste fühlen sich auch ohne raffinierte Tischdekoration bei ihr wohl.
Die Zeit, die sich Frau M. nun „freigeschaufelt“ hat, nutzt sie für ihr neues Hobby, das Tanzen. Und dabei geht es ihr nicht um Perfektion, sondern um den Spaß an der Sache. Seither geht es auch gesundheitlich langsam, aber sicher wieder bergauf.